13. November 2025 |

„Lieber besetzt als tot?“

„Lieber besetzt als tot.“ Dieser Satz stammt von Ole Nymoen, Podcaster, Journalist und einem der lautesten Gegner einer starken Unterstützung der Ukraine und eines verteidigungsfähigen Landes. In seinem Buch, das ein Bestseller wurde, führt er diese These aus. Sie klingt auf den ersten Blick nachvollziehbar: Ist es nicht besser zu leben – auch in einem besetzten Land –, als für immer tot zu sein?

Ich war seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn der russischen Invasion, sechs Mal in der Ukraine. Bei einer dieser Reisen traf ich einen Soldaten, einen hageren Mann mittleren Alters mit Bart. Er sagte: „Natürlich will ich nicht zurück an die Front. Es ist unvorstellbar schrecklich da. Aber was soll ich machen? Wenn die Russen ein Dorf erobern, kann es sein, dass sie alle umbringen, foltern und vergewaltigen. Und wir können ja nicht alle fliehen.“

Was Nymoen übersieht, ist dies: Für die Menschen in der Ukraine ist Kapitulation keine Option. Die Idee, sich zu ergeben, um zu überleben, mag von außen logisch erscheinen – aber sie ist dort keine realistische Möglichkeit.

Für die russische Regierung existiert die Ukraine nicht – keine ukrainische Sprache, keine Kultur, kein eigenständiges Volk. Diese Leugnung der Existenz der Ukraine durch das russische Regime führt dazu, dass die russische Armee nicht nur einen konventionellen Krieg führt mit alldem Schrecken, den esr bereits beinhaltet. In den besetzten Gebieten fallenviele Menschen der Brutalität des russischen Armee zum Opfer. Dort hat Putin ein Terrorregime errichtet.

Die Verbrechen von Butscha und Irpin – das Töten von Zivilisten, das Foltern, das Vergewaltigen – wurden bei uns breit berichtet. Doch sie waren keine Ausnahme, sondern die Regel. Die russische Armee handelte in vielen eroberten Gebieten ähnlich. Das Regime hat tausende ukrainische Kinder verschleppt. Diese Kinder bekamen neue Namen, wurden von ihren Eltern getrennt und dürfen kein Ukrainisch mehr sprechen.

Die New York Times berichtete im vergangenen Jahr von einem System aus über hundert Gefängnissen, Lagern und Kellern in den besetzten Gebieten, in denen Ukrainer jederzeit verschwinden können – ein System, das an die schlimmsten Verbrechen der Stalin-Zeit erinnert. Im Oktober 2024 wurden 14.000 Ukrainer dort festgehalten – keine Kriegsgefangenen, sondern Zivilisten.

Ich habe bereits mehrfach freigelassene Gefangene getroffen. Viele sagten, sie seien keine Soldaten gewesen, sondern Zivilisten. Und selbst wer nicht verhaftet oder ermordet wird, hat keine Sicherheit. Denn die russische Armee zwingt Ukrainer aus den besetzten Gebieten, gegen ihr eigenes Land zu kämpfen. Wer sich weigert, wird getötet. Das Argument, man sei Pazifist, interessiert die russische Regierung nicht.

Der Satz „Lieber besetzt als tot“ hat mit der Realität des Krieges nichts zu tun. „Besetzt“ und „tot“ sind keine Gegensätze. Für zu viele Ukrainerinnen und Ukrainer heißt es leider „besetzt, gefoltert, verschleppt, vergewaltigt und tot“.

Jemand wie Nymoen kann nur so sprechen, wie er spricht, weil er in einem demokratischen Land lebt und dort die dazugehörigen Freiheiten genießt. Er lebt in einem Land, in dem genügend andere Menschen bereit sind, es zu verteidigen – in einem Land, dessen Freiheit gerade auch von ukrainischen Soldatinnen und Soldaten mitverteidigt wird.

Denn die russische Regierung will – laut eigenen Aussagen – nicht nur die Ukraine erobern, sondern das alte Zarenreich wiederherstellen. Zu glauben, das hätte keine Auswirkungen auf Deutschland, ist mehr als naiv.

Deshalb gilt: Die Ukraine muss diesen Krieg nicht nur überleben – sie muss ihn gewinnen. Für sich. Und für uns alle.